Im Leben von Werner Pohlmann haben Bücher schon immer eine große Rolle gespielt. Seit er lesen kann, ist kaum ein Tag vergangen, an dem er kein Buch in der Hand gehabt hätte. In seiner Ausbildung zum Schriftsetzer hat Werner Pohlmann gelernt, wie Bücher hergestellt werden, in seinem Grafikdesign-Studium lernte er, sie zu gestalten. Im Studium der Literaturwissenschaft setzte er sich wissenschaftlich mit Büchern auseinander und in seiner Arbeit im Buchhandel brachte er schließlich anderen Menschen die Welt der Bücher näher. Welche der vielen Bücher, die Werner Pohlmann in seinem Leben in Händen hielt, ihm auch besonders im Herzen geblieben sind, hat er uns verraten, auch wenn es ihm sicher nicht leicht fiel, eine Wahl zu treffen.
Haus ohne Hüter
„Wenn die Mutter in der Nacht den Ventilator laufen ließ, wurde er wach, obwohl die Gummiflügel dieser Luftmühle nur ein weiches Geräusch er zeugten: fluppendes Surren und manchmal ein Stocken, wenn die Gardine zwischen die Flügel geriet. Dann stand die Mutter auf, zog leise fluchend die Gardine aus dem Getriebe und klemmte sie zwischen die Türen des Bücherschranks.“
Als katholisch erzogenes Kind der fünfziger Jahre, konnte ich mich als Jugendlicher mit vielem identifizieren, was dem zwölfjährigen Heinrich in diesem Buch widerfährt. In ärmlichen Verhältnissen aufwachsend, muss er früh Verantwortung übernehmen. Sein Freund Martin leidet zwar keine Not, muss aber mit ansehen, wie seine Mutter den Tod des im Krieg gefallenen Vaters nicht verwinden kann. Ich kenne kein anderes Buch, das einem die Nachkriegsjahre so nahe bringt, wie dieses. Ich selbst habe mit dem Lesen der Bücher Bölls meine Kindheit und letztlich auch den Katholizismus hinter mir gelassen.
Autor: Heinrich Böll
Besessen
„Das Buch war dick, schwarz und völlig verstaubt. Sein Einband war verbogen und knarrte; es hatte einiges durchgemacht. Der Buchrücken fehlte, das heißt, er ragte wie ein unförmiges Lesezeichen zwischen den Seiten hervor. Wie eine Mumie war das Buch um und um mit schmutzigem, einst weißem Band verschnürt, dessen Enden eine ordentliche Schleife bildeten. … Roland saß an seinem Lieblingsplatz, dem kleinen Tisch mit einem Stuhl hinter einem viereckigen Pfeiler, aber mit Sicht auf die Uhr über dem Kamin. Zu seiner Rechten fiel Sonnenlicht durch ein hohes Fenster, aus dem man die grünen Wipfel der Bäume am St. James Square sah.“
Ich bin fasziniert davon, wie es Antonia S. Byatt gelang, über einen erfundenen Dichter des neunzehnten Jahrhunderts zu schreiben, und sogar seine Vers-Epen im romantischen Stil jener Zeit zu erdichten. Außerdem berühren mich die zwei komplizierten, miteinander verknüpften zarten Liebesgeschichten aus unterschiedlichen Jahrhunderten. Ich empfinde diesen Roman als Loblied auf die, die Bücher lieben.
Autorin: Antonia S. Byatt. Übersetzerin: Melanie Walz.
Was ich liebte
„Gestern fand ich Violets Briefe an Bill. Sie fielen zwischen den Seiten eines seiner Bücher heraus und flatterten zu Boden. Ich wusste seit Jahren von diesen Briefen, doch weder Bill noch Violet hatten mir je erzählt, was darin stand. Sie hatten mir nur erzählt, Bill habe, unmittelbar nachdem er den fünften und letzten gelesen hatte, sich seine Ehe mit Lucille noch einmal durch den Kopf gehen lassen, die Haustür in der Greene Street hinter sich zugeschlagen und sei schnurstracks zu Violets Wohnung im East Village gegangen.“
Aus der Sicht des Protagonisten Leo schildert Siri Hustvedt die Lebensentwürfe zweier befreundeter Künstlerfamilien. Durch Schicksalsschläge, die ihren Kindern widerfahren, nehmen ihre Leben und ihre Freundschaften unerwartete und tragische Wendungen. Am Ende hat Leo alles verloren: die körperliche und die seelische Unversehrtheit. Ihm bleibt nur die Kunst und die Erinnerung an die Liebe. Eines der eindrucksvollsten Bücher, das ich im letzten Jahrzehnt gelesen habe.
Autorin: Siri Hustvedt. Übersetzer: Erica Fischer, Uli Aumüller, Grete Osterwald.
Das Herz ist ein einsamer Jäger
„Es gab in der Stadt zwei Taubstumme, die man immer zusammen sah. Jeden Morgen traten sie zeitig aus dem Haus, in dem sie wohnten, um Arm in Arm die Straße hinunter zur Arbeit zu gehen. Die beiden Freunde waren sehr verschieden. Der eine, der stets die Führung übernahm, war ein beleibter, verträumter Grieche. … Der andere Taubstumme war ein großer schlanker Mann mit wachen, intelligenten Augen. Er war stets schlicht und tadellos gekleidet.“
Die Wege verschiedener Menschen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, kreuzen sich im Café des Besitzers Biff. Halt und Vertrauen finden diese Außenseiter beim taubstummen Mister Singer, weil er ihnen zuhört und dadurch Trost spendet. Nachdem ich dieses Buch für mich entdeckt hatte – zu Anfang war ich allein schon vom ungewöhnlichen Titel fasziniert – wollte ich sofort alles von Carson McCullers lesen. Auch die Biografie der früh verstorbenen Autorin hat mich sehr berührt.
Autorin: Carson McCullers. Übersetzerin: Susanne Rademacher.
Ein Kind zur Zeit
„Während Stephen im Zickzack überholte, hielt er wie immer, wenn auch kaum noch bewusst, Ausschau nach Kindern, einem fünfjährigen Mädchen. Es war mehr als eine Gewohnheit, denn Gewohnheiten kann man ablegen. Es war eine tiefe Neigung, seinem Wesen durch Erfahrung aufgeprägt. Es war nicht in erste Linie ein Suchen, wie es das früher einmal gewesen war, zwanghaft und lange Zeit.“
Beim Einkaufen im Supermarkt wird die Tochter des Protagonisten Stephen entführt und sie bleibt unauffindbar. Mit ihr verschwindet für die Eltern die Liebe und jeder Existenzsinn. Nicht einmal ihre Ängste und Hoffnungen können sie noch miteinander teilen. Und dennoch versuchen sie – jeder auf seine Weise – Verlorenes wiederzugewinnen. Neben der Schilderung des privaten Unglücks ist der Roman eine treffende Zustandsbeschreibung der Politik und Gesellschaft Ende des 20. Jahrhunderts. Als tröstlich empfinde ich es, dass der Roman zwar nicht „happy“, aber doch hoffnungsvoll endet.
Autor: Ian McEwan. Übersetzer: Otto Bayer.