Stevan Paul, 1969 geboren, lebt in Hamburg. Der gelernte Koch ist als Foodstylist und Rezeptentwickler für Verlage und Redaktionen tätig, verfasst Kochbücher. Als freier Autor schreibt er kulinarische Texte und Kolumnen für Magazine und Tageszeitungen. Seit 2008 bloggt Stevan Paul auf NutriCulinary über „gutes Essen & große Küche“. 2009 erschien sein erster Erzählband „Monsieur, der Hummer und ich – Erzählungen vom Kochen“ im mairisch Verlag und 2012 ebendort der Folgeband „Schlaraffenland – Ein Buch über die tröstliche Wirkung von warmem Milchreis, die Kunst, ein Linsengericht zu kochen, und die Unwägbarkeiten der Liebe“. Sein neues Kochbuch Deutschland Vegetarisch erscheint im Herbst 2013.
Hell und Schnell
Mein Onkel Waldutsch war ein großer Mann. Wir Kinder freuten uns auf jedes noch so langweilige Familienfest, wenn nur der Onkel auch dabei war. Onkel Waldutsch reimte und kalauerte ohne Unterlass, er kannte die lustigsten Gedichte und zog dazu während des Vortrages die interessantesten Gesichter, bis wir Bauchweh hatten vor Lachen. Es sollte noch Jahre dauern, bis ich herausfand, dass große Teile seines unerschöpflichen Repertoires der Neuen Frankfurter Schule und insbesondere Robert Gernhardt zuzuordnen waren. Über die Lyrik öffnete mir mein ein Onkel Waldutsch die Türe zu Humorarbeitern wie Tucholsky und Ringelnatz, Robert Gernhardt, F.W. Bernstein, Hans Traxler und später Wiglaf Droste, Max Goldt, Fritz Eckenga … Der von Robert Gernhardt und Klaus Cäsar Zehrer 2004 herausgegebene Gedichtband Hell und Schnell versammelt sie alle, „555 komische Gedichte aus 5 Jahrhunderten“ – ein knappes Kilo kluger Humor, aus dem wiederum ich jetzt, das Erbe Onkle Waldutschs weitergebend, in Gesellschaft von Kindern fleißig rezitiere, was mein Patenkind neulich augenrollend mit der Aussage quittierte: „Du immer mit Deinen Sprüchen.“
Autor: Klaus Cäsar Zehrer
Wir Ertrunkenen
Lesen bedeutet ja nicht immer reine Freude und pure Erleuchtung, mitunter wird’s auch mühsam, und ich habe den Eindruck, mit zunehmendem Alter auch zunehmend mühsamer. Zumindest mir geht es so, ich vergleiche, ich analysiere und ich frage mich oft schon nach wenigen Seiten, ob denn dieses oder jenes Buch einen Teil der mir verbleibenden Lebenszeit wert ist. Das sind die dunklen Stunden, in denen ich mir wünsche, wieder wie ein Kind lesen zu können, mit vorbehaltloser Begeisterung neue Welten entdeckend, mitgerissen und verschluckt über Tage, Seite um Seite, in der Hoffnung lesend, der Text möge nie aufhören. Zuletzt gelang mir das mit Carsten Jensens Roman „Wir Ertrunken“. Auf knapp 800 Seiten erzählt der dänische Autor über 100 Jahre hinweg die Geschichte des Hafenstädtchens Marstal auf der dänischen Insel Ærø. Beginnend mit dem Deutsch-Dänischen Krieg im Jahr 1848 begleiten wir die Seefahrer, die Lebenden, die Ertrunken und die Witwen durch Zeiten und Weltmeere. Richtige Männer und starke Frauen. Mit echten Problemen. Menschenfresser, Schrumpfköpfe und Piraten, fiebernder Wahnsinn in der Südsee, Hungertod im Packeis, menschliche Ungeheuer, Meuterei, Mord und rasende Stürme. Atemberaubend sind die Erlebnisse der Seeleute, und die Seeleute dem Leser sehr nah, weil man schon nach wenigen Seiten zur Familie gehört, die Kinder kennt, die Väter, die Mütter, die Urgroßeltern, die Lebenden und die Toten. Meisterhaft gelingt Jensen und seinem Übersetzer Ulrich Sonnenberg eine Reflektion über die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Und es sind nicht die Stürme, der Hunger, das Meer der größte Menschenfeind: Es sind die Urenkel von Marstal die, gegen Ende des Buches, auf See dem größten menschlichen Wahnsinn begegnen: den Weltkriegen.
Autor: Carsten Jensen. Übersetzer: Ulrich Sonnenberg.
Kippenberger
Ich lese gerne Biografien, sie erzählen davon, wie andere Menschen die Herausforderung Leben meistern. Leider sind sie oftmals schlampig bis verstörend schlecht geschrieben. Susanne Kippenbergers Abhandlung über ihren Bruder, den Künstler Martin Kippenberger ist ein Glücksfall an Sprache und Einsicht, aus dem ich viel für mich mitgenommen habe. Kippenberger habe ich spät entdeckt, erst war ich zu jung und dann noch ein paar Jahre lang zu doof für die Kunst. 2007 erschien das biografische Portrait des Künstlers, und das gesamtdeutsche Feuilleton lobhudelte das Buch derartig, dass ich neugierig wurde. Ich war und bin fasziniert von Kippenbergers Radikalität, sich, der Kunst und anderen gegenüber. Kippenberger bedeutet mir die beständige Aufforderung selbst zu denken, infrage zu stellen, Position zu beziehen, auch mal unbequem zu sein, aber vor allem: keine Angst zu haben, niemals, vor nichts und niemandem. Kippenbergers Lebensphilosophie ist für mich die Übersetzung der Mode-Erscheinung Punk in eine Haltung, die alterslos ist.
Autorin: Susanne Kippenberger
Morgen war schon
Früher habe ich den Bachmannpreis im Fernsehen verfolgt. 2004 betrat Guy Helminger die Lesebühne in Klagenfurt und dann, gleich der zweite Satz aus seinem Text Pelargonie: „Er fuhr in der Stadt herum, und ab und an, wenn es sich anbot, wenn er wusste, dass es ihm dieses seltsame Glücksgefühl bescheren würde, ließ er den Lenker los, richtete sich auf und schlug einem Passanten im Vorbeigleiten auf den Hinterkopf.“ Ich war Helminger sofort verfallen. Meisterhaft versteht er es, den komischen Momenten des Lebens Tiefe, und der Tragik eine tröstliche Leichtigkeit zu verleihen. Er schreibt kühn, jongliert mit Worten und Metaphern, ist dabei nie künstlich oder angestrengt. Anlässlich der Veröffentlichung seines Generationen-Romans „Morgen war schon“ lud ich Helminger 2008 kühn auf unsere damalige Lesebühne nach Hamburg ein. Es gab leider nur 50 Euro Honorar und klimperndes Fahrtgeld. Guy Helminger reiste ohne zu zögern trotzdem an.
Autor: Guy Helminger
Wie der Soldat das Grammofon repariert
Saša Stanišićs Debüt „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ war im Erscheinungsjahr 2006 mein Buch des Jahres, im vergangenen Sommer habe ich es anlässlich einer Reise ins ehemalige Jugoslawien wieder gelesen und war erneut, ja überwältigt. Oder, wie ein befreundeter Verleger einmal sagte: „Es macht keinen Sinn mehr zu schreiben, wenn man nicht wenigstens versucht, ein bisschen wie Saša Stanišić zu schreiben.“ Was er meinte, ist die Fülle wuchtiger Bilder, die Liebe zum Detail und einen puren Sprachfluss, der sich alle Kunststückchen der Literatur verbietet, um ohne Effekthascherei eine große Geschichte erzählt. In diesen Tagen räumt Stanišić für sein Romanprojekt Ana ordentlich Preise ab, zuletzt den Alfred-Döblin-Preis 2013. Das freut mich sehr, denn: Ist nicht eigentlich immer das nächste Buch, auf das wir sehnsüchtig warten, unser Lieblingsbuch?
Autor: Saša Stanišićs