Martin Felder veröffentlichte soeben mit Meine Nachbarin, der Künstler, die Blumen und der Revolutionär den wahrscheinlich schrägsten Debütroman dieses Jahrhunderts, in dem ein Autor im Keller seiner Nachbarin einer Heuschrecke nachhüpft. Daneben trainiert er Karate und fährt mit Begeisterung ein Fahrrad ohne Bremsen, ohne Sattel und ohne Pedalen.

Martin Felder

Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman

Leben und Ansichten von Tristram Shandy, GentlemanTristram Shandy, der Erzähler von Sternes Roman, will eine Autobiographie schreiben, aber sein fabulierendes Ich treibt ihn ständig nach links und rechts, sodass er am Ende zwar allerhand Erquickliches über die Zeit vor seiner Geburt, über Verwandte und andere skurrile Gestalten, übers Schreiben und Erzählen und überhaupt über das Leben geschildert hat, aber wenig über seine eigene Geschichte. Das Abschweifen und Nicht-zum-Ziel-Kommen ist bei Sterne reine Lust. Und wie nebenbei schreibt der Autor im 18. Jahrhundert den frechsten Roman der Weltliteratur, der heute noch so modern ist wie damals. So fügt der Erzähler auch einmal eine schwarze Seite ins Buch ein, wenn eine Figur des Texts in Trauer ist oder stellt die Erzählstruktur graphisch dar (ohne sein vorgegebenes Ziel einer grösseren Klarheit zu erreichen). Dabei ist das Buch urkomisch, Humor im besten Sinn des Wortes, Witz, der den gesamten Raum auslotet zwischen metaphysischen Höhen und kalauerigen Untiefen, zwischen sinnierendem Lächeln und liebevollem aber lautem Lachen. Ich habe das Buch zum ersten Mal mit neunzehn Jahren gelesen und damals hat mich die Abbildung der Zufälligkeit und Inkonsequenz des Lebens fasziniert. Sterne macht in seinem Buch alles, was in Handbüchern übers Schreiben verboten wird. Das ist Kunst in ihrer Essenz: Freiheit.

Autor: Laurence Sterne. Übersetzer: Michael Walter

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Platon: Politeia

Platon: PoliteiaPlatons Werk Politeia ist nicht nur Philosophie, es ist auch Literatur. Und es macht etwas, was heute in der Philosophie (berechtigterweise) niemand mehr wagt: Es erklärt kein Detailproblem, sondern umspannt das ganze menschliche Dasein. Es ist absolut grössenwahnsinnig (in der Geschichte der Philosophie kein Einzelfall). Von der Frage, was wir wissen können, über die Frage nach Gerechtigkeit, nach dem idealen Staat, dem Sinn und Ziel von Bildung bis hin zum Aufbau der menschlichen Seele. Wie all diese Ideen und Überlegungen miteinander verknüpft sind, ist grossartig, ein Genuss für den Geist. Einverstanden bin ich letztlich mit wenig in diesem Buch, aber das macht nichts, die Fragen, die in der Philosophie aufgeworfen werden, sind wichtiger als die Antworten. Die Fragen – und die Strukturen und Möglichkeiten des Denkens.

Autor: Platon

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Das Blaue Buch

Werkausgabe in 8 BändenWenn ich Platon lese, brauche ich danach ein Gegengift. Es gäbe verschiedene. Aber eines, das in der Apotheke dabei sein muss, ist Wittgensteins blaues Buch. In diesem Text versteht man alles, denn Wittgenstein entwickelt seine Gedanken über das Funktionieren von Sprache Schritt für Schritt und mit vielen Beispielen, dass die Schwierigkeit höchstens darin besteht, dass man sich des Gesamtzusammenhangs bewusst bleiben muss: Was heisst verstehen? Was heisst meinen? Was heisst Bedeutung? Ich liess mich erst vom frühen Wittgenstein etwas abhalten, mich weiter mit diesem Philosophen zu befassen, das war falsch: Die späteren Schriften sind zugänglicher – und wahrer. Mich fasziniert aber nicht nur die gedankliche Schärfe dieses Philosophen, sondern auch seine bescheidene Grundhaltung. Die wahren Dinge sind ganz einfach. In dieser Einfachheit können sie (vielleicht?) auch dargebracht werden. Neben allem Inhaltlichen, das jede und jeden interessieren muss, die oder der mit Sprache arbeitet, ist der Glaube an die klärende Kraft der Logik und Vernunft etwas Schönes. Da spüre ich förmlich förmlich, sich mir beim Lesen die Gedanken durchkämmen, dass ich für Sekunden fast so etwas wie Klarheit erlebe, die aber je nach Intensität der Lektüre nach ein paar Stunden oder Wochen wieder nachlässt.

Autor: Ludwig Wittgenstein. Übersetzerin: Petra von Morstein.

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Die unendliche Geschichte

Die unendliche GeschichteIch lese das Buch etwa zum fünften Mal. Und ich muss sagen: der zweite Teil ist schlechter als der erste. Aber der erste ist so toll, so voller Anspielungen, auf eine so spielerische Art selbstreflexiv, dass es mir fast schon ein wenig egal ist, wies nachher weitergeht. Mein Sohn, dem ich die unendliche Geschichte gerade zu Ende erzähle, Seite für Seite, vor dem Einschlafen, ist allerdings nicht meiner Meinung, er findet den zweiten Teil mit den weinenden, wurmartigen Acharai, die in lachende, schmetterlinghafte und clownartige Schlamuffen verwandelt werden, mit wiederholten Verirrungen in dichten Wäldern, mit einem berauschenden Flug auf Fuchur viel spannender.
Ich glaube, dass mich dieses Kinderbuch, das mir selber einst erzählt wurde, bevor ich es selber lesen konnte, stark geprägt hat, oder dass ich da auf etwas gestossen bin, was mich immer schon interessierte: Wo beginnt eigentlich die Wirklichkeit, was denke ich mir dazu? Und was passiert genau jetzt, wo ich mir diese Frage stelle?

Autor: Michael Ende. Illustratorin: Claudia Seeger. Designer: Michael Kimmerle.

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Undine geht

Undine gehtIngeborg Bachmann ist eine meiner Lieblingsautorinnen. Die Erzählung “Undine geht” ist von einzigartiger Perfektion. Für mich steht Ingeborg Bachmann für eine Prosa, die auf allen Ebenen von berührender Poesie ist: Nicht nur die Sprache, sondern auch die (oft reduzierte) Handlung, die Figuren, die Schauplätze: All ihre erzählenden Texte sind gleichzeitig wunderbare Lyrik.

Autorin: Ingeborg Bachmann