Jo Lendle liest (ab 2014 als Hanser-Verleger) und schreibt (zuletzt „Was wir Liebe nennen“).

5? Von sämtlichen je erschienenen Büchern? Solche Fragen mag ich ja am liebsten. Dabei lassen sich Lieblingsbücher ebenso schlecht bestimmen wie Lieblingskinder. Bleiben zwei Auswege. Entweder man nennt die Bücher der Stunde, denen man gerade jetzt Vertrauen schenkt. Das wäre ohnehin meine Lieblingsverwendung für den Begriff „Liebling“. Nichts ist so intensiv wie der Moment einer Entdeckung. Oder man nennt die Lebensbücher, die ewigen Begleiter, die – abgenutzt wie ein angesabberter Teddy – immer schon da waren, seit Ewigkeiten nicht mehr hinterfragt oder nur hinter einem Schleier aus Rührung über das Vergehen der Zeit. (Jim Knopf vorlesen und erschrecken, wie kurz die Fahrt durchs einstürzende Tal der Dämmerung ist, die als Kind Stunden aus Todesangst bescherte.) Weil Momente so rasch wechseln, scheint mir das in diesem Fall die angemessenere Wahl zu sein. Hier also einige Bücher, mit denen ich einmal, vor jeder Verlagsarbeit, zu lesen gelernt habe.

Jo Lendle

Das Kopfkissenbuch einer Hofdame

Das Kopfkissenbuch einer HofdameTausend Jahre alt. Die entzückende Sammlung von Momenten und Beobachtungen macht Sei Shonagon zur Ururgroßmutter der Aufmerksamkeit. Sie notierte alles, was ihr als Hofdame am japanischen Kaiserhof so auffiel – das Prinzip lässt sich leicht auf abweichende Lebenssituationen übertragen. Am liebsten entwarf sie Listen, die ja überhaupt eine der beglückendsten Literaturgattungen sind. Das Büchlein lag nicht nur bei Sei Shonagon unterm Kopfkissen, sondern sollte das bei jedem heutigen Lesern tun – trägt eh kaum auf.

Autorin: Sei Shōnagon. Illustratorin: Masami Iwata. Übersetzer: Mamoru Watanabé.

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Schlechte Wörter

Schlechte WörterEin Anfangssatz: „Wir haben jetzt Flecken auf unseren Sesseln.“ Was soll man sagen? Keine Ahnung, wovon die 22 Miniaturen handeln, aber sie ziehen einem die Schuhe (etc.) aus. Wer Sprunghaftigkeit mag, wird „Schlechte Wörter“ lieben. Nebenbei ist das ein hervorragender Buchtitel – und passt so schön zu Atwoods „Good bones“, die hier ebenso stehen könnte. In der Musik gibt es Programmmusik und absolute Musik: Erstere ist das jedenfalls nicht. Mark Twain schrieb vorn in seinen Huck Finn: „Persons attempting to find a plot in it will be shot.“ Das trifft es ganz gut.

Autorin: Ilse Aichinger

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Le grand cahier

Le grand cahierAus Kinderperspektive zu schreiben ist fast unmöglich. Hier gelingt es. Allerdings so, dass man nie wieder Kind sein will. Weil die beiden Zwillinge, die ihre Geschichte im großen Heft notieren, sich durch dieses Schreiben panzern gegen die Zudringlichkeiten der Welt. Das gibt dem Buch eine strenge Unerbittlichkeit. Sie hält die Kinder aufrecht und erschlägt den Leser aufs Erfreulichste.

Autorin: Ágota Kristóf

Übersetzen. Ein Vademecum

Übersetzen. Ein VademecumWeil man beileibe nicht nur übersetzen darin übt. Sondern hören, stutzen, knabbern, denken. Ein Ausflug in die recht weitläufige, oft weglose, bisweilen ausweglose Landschaft des Stils. Wäre Sprache eine Weltraummission, dies wäre der Flugsimulator. Rüttelt gut durch.

Autorin: Judith Macheiner

Das ungeschriebene Buch

Ein Buch, von dem man denkt, es sollte mal geschrieben werden. Jeder hat eine Vorstellung davon, aber keiner kennt es genau. Manchmal erwischt dich – im Park, unter der Dusche, beim Einschlafen – eine Ahnung, was darin stehen könnte, undeutlich wie der Lufthauch einer Seite beim Umblättern. Und viel zu kurz, um mitzuschreiben. Was schade ist, denn alles deutet darauf hin, dass es wirklich überwältigend ist, unerhört, ein Fest. Es gibt dieses Buch nicht, aber es sollte es geben.