Nicole Wiedinger ist Philosophin. Lange Zeit hätte sie das so nicht formuliert, sagt sie. Doch mittlerweile sei ihr Faible fürs Denken einfach zu offensichtlich. Und die alte Streitfrage, ob nun eher das ‚Wahre’ oder das ‚Gute’ oder doch das ‚Schöne’ die glückbringende Essenz sei, interessiert sie wirklich. Über die Jahre war Nicole Wiedinger in verschiedenen Projekten und Positionen im Kunst- und Kulturbereich engagiert. Heute ist sie Geschäftsleiterin im Institut für Wirtschaftsgestaltung, einem Forschungsinstitut für Wirtschaftsphilosophie. „Hier denken, forschen und streiten wir. Hier irren und finden, vor allem aber erfinden wir. Hier sprechen, schreiben und beraten wir.“ Kürzlich bereitete sie eine Diskussionsrunde zum Thema Reichtum vor. Bei Georges Batailles fand sich der Gedanke, dass in einer Kultur, die einen guten Umgang mit ihrem Reichtum hat, nicht mehr der ‚Nutzen’, sondern der ‚Gefallen’ das entscheidende Kriterium wäre. – Da war er wieder, der Streit um die Universalien des Lebens. Mit einem beherzten Plädoyer für einen Paradigmenwechsel. Weg vom ‚Guten’, hin zum ‚Schönen’! „Wie das Schöne konkret zu verwirklichen ist? Wenn sich jemand darauf versteht, mit dem Anfang zu beginnen, stehen die Chancen nicht schlecht, dass, was wird, auch schön wird!“
Hier ihre fünf Bücher zur ‚Kunst des Anfangens’:
Nikomachische Ethik
Es ist wohl eine zu idyllische Vorstellung, dass der gesellschaftliche Kosmos der Antike ganz und gar von Freundschaft getragen war. Doch wurde in dieser Zeit erstmals überhaupt entdeckt, welch große Bedeutung sie hat. Allein im Medium der Freundschaft, so Aristoteles, können sich einander fremde Staatsbürger so aufeinander beziehen, dass jeder zu dem Seinen und – zu sich! – kommt. Freundschaft ist die Anfangskunst überhaupt und die Anerkennung der Ungleichheit ihr Ausgangspunkt: „In all diesen auf Überlegenheit beruhenden Freundschaften muss die Liebe eine verhältnismäßige sein, muss der Bessere, Nützlichere und sonst Überlegenere mehr geliebt werden als lieben. Denn dann, wenn beide Teile nach Würden geliebt werden, entsteht gewissermaßen Gleichheit, was ja als Grundzug der Freundschaft gilt.“ – Zugegeben, das ist doch sehr aristokratisch gesprochen, wie auch der gesamte Text des griechischen Philosophen das Beste des Lesers fordert. Doch gibt er wertvolle Einblicke in einen zur Opportunitätsdiktatur unserer Tage alternativen Handlungskosmos. In ihm können Freunde schon auch einmal ‚per Sie’ ihre Distanz zueinander pflegen und über die Grenzen der Ungleichheit hinweg doch mehr möglich machen, als wenn sie immer schon ‚per Du’ miteinander verkehrten.
Autor: Aristoteles
Der heilige Eros
Georges Bataille zu lesen, beschämt. Ihn schmerzt die Zivilisation, ihre zermürbende Ignoranz, ihre arrogante Überheblichkeit, ihre doch eher kleinlichen Glücksvorstellungen. Die klaren Worte des französischen Philosophen wider die gesellschaftlichen Tabus berühren peinlich. Doch sein Sprechen und Schreiben folgt einer Art heiligem Auftrag. Wer dafür ein Gespür hat, liest sich anders durch seine provozierenden Gedankenexperimente und erlebt, Georges Bataille zu lesen, befreit: „Das wirkliche Glück empfinden wir nur, wenn wir nutzlos verschwenden, so als ob sich in uns eine Wunde öffnet: wir wollen stets der Nutzlosigkeit unserer Verschwendung gewiss sein, manchmal auch ihrer Verderblichkeit. Wir wollen uns so weit wie möglich von jener Welt entfernt wissen, in der Anhäufung der Mittel die Regel ist. Aber ‚soweit wie möglich’ sagt wenig: wir wünschen eine umgestürzte Welt, wir wünschen sie verkehrt. Die Wahrheit der Erotik ist Verrat.“ Verrat woran? Vielleicht an dem Glauben, dass allein, was auch etwas nützt, zählt. Mit Sicherheit jedoch nicht an dem, was ‚wahr’, ‚gut’ und ‚schön’ werden will.
Autor: Georges Bataille. Herausgeber, Übersetzer: Max Hölzer.
Lucie im Wald mit den Dingsda
Andreas hat drei Töchter und seine Gören setzen ihm ganz schön zu. Dem Vater saust der Kopf und ich frage mich ab und zu, ob ich mir Sorgen machen muss. Kürzlich erst überreichte er mir ein Buch: „Peter Handke, bin ich nie wirklich warm mit geworden. Doch diese Geschichte hier, ganz wunderbar!“ Gestern Abend nun schlug ich in der Badewanne liegend die erste Seite auf. Da stand: „Lucie hieß in Wirklichkeit anders. Aber sie wollte nicht so heißen, wie sie wirklich hieß. Sie wollte Theodora, Aurora, Renata, Jelena oder auch nur zum Beispiel Lucie heißen. Und so heißt sie in dieser Geschichte jetzt Lucie.“ Ich las weiter und weiter, bis das Wasser gänzlich erkaltet war. Die aus Vorstellung und Wille zusammengepasste Welt der kleinen Lucie, mit ihrem eigensinnigen Vater und ihrer wunderschönen Mutter – ich bitte das ihrem und ihre sehr betont zu lesen –, war in der Tat betörend. Auch wenn mir das Ende der Geschichte bis jetzt noch unbekannt ist, klar ist: hier war ein Anarchist am Werk! Und klar ist auch: Um Andreas brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Weil Lucie sich unverschämt an die Stelle einer anderen, nicht weniger anarchistischen Geschichte gedrängt hat, sei diese dringend wenigstens noch genannt: Ian McEwan, Der Zementgarten.
Autor: Peter Handke
Beginnen wir mit dem Unmöglichen: Jacques Derrida, Ressourcen und der Ursprung der Ökonomie
Was überhaupt ist Produktion? Das ist für die Wirtschaftswelt die entscheidende Anfangsfrage. „Wie ist, was es gibt, in die Welt gekommen?“ Doch die Ökonomen interessiert diese Frage bis heute wenig, den ein oder anderen Philosophen hingegen sehr. „Wenn es denn unumgänglich ist, die Gabe aus ihrem anfänglichen Charakter zu erschließen, dann kann man sie ja auch als eine Produktivkraft denken. Das Geben, was man nicht hat, hat ja sozusagen nur nichts zu geben vorrätig. Damit ist aber nicht auch schon ausgeschlossen, dass sich über das Geben etwas zu geben ergibt.“ – Beginnen wir mit dem Unmöglichen, heißt das Buch, in dem Wolf Dieter Enkelmann sich mit Jacques Derrida, Homer, Platon und anderen ins Gespräch begibt und darüber eine Welt aufgehen lässt, die noch mit der Freiheit zu rechnen versteht. Er entwickelt in dieser leidenschaftlich verfassten Abhandlung unter anderem einen Begriff des Vertrauens – das heute viel im Munde geführt und doch noch wenig begriffen wird –, der der (Produktiv-)Kraft des Wünschens wieder zu ihrem Recht verhilft. – Ein Stück spekulativer Philosophie aus unseren Tagen, das auf meiner Liste nicht fehlen darf! Andreas (siehe Lucie im Wald mit den Dingsda) übrigens sagte über dieses Buch, es habe sein Leben verändert! Und ich glaube, es stimmt sogar.
Autor: Wolf Dieter Enkelmann
Vom Guten, Wahren und Schönen
Danach gefragt, was es für die Zukunft zu bewahren lohnt, sagte Sybille Lewitscharoff: „Meine größte Sorge ist, dass die Männer verschwinden. Womöglich haben wir es in unseren Breiten bald nur noch mit säuglingshaften Exemplaren zu tun, die sich weigern, scharfe Züge zu entwickeln oder zumindest bis ins Alter von vierzig oder fünfzig Jahren ein paar Haare auf dem Kopf zu behalten. Deshalb müssen in die geistige Vorratskammer Bücher, in denen Männer vorkommen. Männer in gebrochener, raffinierter Heldenhaftigkeit, auf die ich ein klein wenig schmachtende, um nicht zu sagen, süße Gedankenblicke werfe.“ – Wenn das nicht von Herzen kommt und sowohl ‚wahr’ als auch ‚gut’ und ‚schön’ gesprochen ist! Seit die Europäer das Denken erfunden haben, streiten sie darüber, wie die Universalien des Lebens zu deuten sind. Seither bringt jede Zeit diese Debatte neu auf den Tisch. – Wer wissen will, wo in unseren Tagen der Frosch die Locken hat, der gönne sich Lewitscharoffs Frankfurter und Züricher Poetikvorlesungen: „Vom Guten, Wahren und Schönen“.
Autor: Sibylle Lewitscharoff