Begeistert über sein frühes Leseinteresse, stellten Matthias Planitzers Eltern ihm eines Tages Alexander Wolkows sechsteiligen „Zauberer der Smaragdenstadt“ in sein mutig dimensioniertes Bücherregal, den er zu ihrer Enttäuschung mit wenig Begeisterung las. Doch immerhin las der Junge, vor allem Sachbücher. Zwar hatten es ihm die Wissenschaften schon früh angetan, doch folgte bald die schöne und vor allem klassische Literatur. Die Lesegewohnheiten behielt er bei: Mit einem Studium der Medizin erfüllte sich der eine Teil, während die Kunst und das Schreiben zu veritablen Zweitbeschäftigungen wurden.
Die unsichtbaren Städte
Wer einmal die Beobachtung gemacht hat, daß Städte sich unterschiedlich anfühlen, daß etwa eine Stadt herzlich und schwelgerisch wirkt, während eine andere beklemmend und kühl sein kann, der hat mitunter den Weg zu Martina Löws „Soziologie der Städte“ oder eben zu dieser Textsammlung Italo Calvinos gefunden. Seine unsichtbaren Städte werden in den Erzählungen eines fiktiv ausgestalteten Marco Polo lebendig, der dem Kublai Khan von seinen wundersamen Reisen berichtet. Die phantastischen Städte, die hier vor des Khans und auch des Lesers geistigen Auge in filigraner Ausarbeitung in den Himmel schießen, werden zu wahren Luftschlössern. Manche dieser knapp umrissenen Wunderwelten führen das Morusʼsche Utopia fort; andere, vor allem im späteren Verlauf vorgestellte Orte bilden dystopische Visionen ab. Calvino entwirft mit seinen unsichtbaren Städten im besten Sinne topoi: Orte, die auch Kategorien, die auch Vorstellungen sind. Schließlich sind diese wundersamen Städte je als Parabeln auf gesellschaftliche, historische oder schlicht menschliche Phänomene zu lesen. In diesem Sinne entwirft Calvino eine Irrfahrt durch alle Winkel des menschlichen Fühlens und Handelns, auf der sich sowohl der berichtende Marco Polo, der nachfühlende Kublai Khan als auch der Leser bald als den immerfort fahrenden Odysseus erkennen, der auf der Suche nach seinem Ithaka schließlich sich selbst findet.
Autor: Italo Calvino. Übersetzerin: Burkhart Kroeber.
Ulysses
Was wurde nicht schon alles über Joycens Koloß gesagt, geschrieben und nicht zuletzt auch gestritten? Anfänglich als Obszönität in Verruf geraten, zierte es bald der Nimbus einer Erzählung von Weltklasse. Ganze Autorengenerationen haben dem unverwechselbaren Vorbild des „Ulysses“ nachgeeifert und so manch ein Kritiker sieht darin ein epochemachendes Monument. Auf der anderen Seite: eine Herausforderung an den Leser. Qualen litten viele, Freude fühlten einige, Ausdauer hatten nur wenige. Knapp tausend Dünndruckseiten zählt meine Ausgabe, da hat man es mit dem 22- stündigen Hörbuch schon leichter. Dabei hat der Roman auch sprachlich einiges zu bieten: Der später populär gewordene Bewusstseinsstrom ist hier mit einer Raffinesse ausgearbeitet, die ihresgleichen sucht. Der sichere Umgang mit der (englischen) Sprache, etwa wenn die Entwicklung eines Kindes von Alt-Englisch bis hin zum modernen Englisch vollzogen wird, genießt noch heute hohes Ansehen. Doch es sind auch die vielen Anekdoten, die der Protagonist Leopold Bloom zum Besten gibt, die vielen von ihm wahrgenommenen Details, die diese Odyssee durch Dublin fühl- und auch Jahrzehnte später noch nachvollziehbar macht. Daher ist auch mein festes Vorhaben: einmal am Bloomsday teilnehmen, die Orte des Romans ablaufen, Zitronenseife kaufen, anschließend über den Glasnevin-Friedhof spazieren und am Ende des Tages im Davy-Byrnes-Pub ein Käsebrot und ein Glas Burgunder zu mir nehmen.
Autor: James Joyce. Übersetzer: Hans Wollschläger.
Schwarze Spiegel
Selten wird bei der Bearbeitung dystopischer Themen auf jene düsteren Pathosformeln der selbst gewählten Bedrohung verzichtet, selten wird das wirkungsvolle Instrument der Ausweglosigkeit aus der undurchdringbaren Übermacht des über die Menschheit gekommenen Übels entbehrt. Wenn eine solch ungewohnt beschwingte Unheilsvision nur in Andeutung und nüchtern vorgetragen wird, wie in den Schwarzen Spiegeln, dann bleibt viel Raum für inhaltliche, sprachliche und formale Höhepunkte. Nicht nur, daß Schmidts bekannte Sprachvirtuosität voll zur Geltung kommt, auch die mannigfaltigen Einstreuungen aus Lyrik, Politik und Zeitgeschehen bereichern die tagebuchartige Erzählung. Ihr lapidarer, trockener Humor gegenüber den Umständen und Widernissen einer postapokalyptischen Lüneburger Heide macht selbst vor dem Autor nicht halt und vermag die vielen, bereits bekannten Bilder des Genres mit einem bitter-süßen Nebengeschmack zu versehen. Sonst geschieht nicht viel: Der Protagonist streift durch eine gott- und vor allem menschenverlassene Welt, findet ein altes Proviantlager und wird aus Freude darüber sesshaft. Zum Ende hin gehtʼs noch einmal hoch her – jedenfalls in Anbetracht einer solchen Situation –, ehe sich wieder alles zum Alten verkehrt und damit eine Menge Glück verbunden ist. Die Vögel zwitschern ohne Unterlaß, die Pflanzen wuchern; auch darum ging es Schmidt und so könnten man auch beflissentlich von einem Trapper-Roman sprechen, der sich ein wenig in der Zeit verirrt hat.
Autor: Arno Schmidt. Kommentar: Oliver Jahn.
Die göttliche Komödie
Man führe es sich einmal vor Augen: Ein bekannter Politiker und Schriftsteller wird seiner Heimatstadt verbannt und schreibt also im Exil eine Schmähschrift, die eine solche literarische Ausnahmeerscheinung darstellt, daß noch Jahrhunderte später Werk und Figuren weithin bekannt sind. Die Commedia mag epochal im Mittelalter verankert sein, doch ihr Geist nimmt den Humanismus voraus, in dessen Lichte sie später rezipiert wurde. Die Handlung ist bekannt: Der Dichter selbst durchschreitet erst Hölle, dann Fegefeuer und schließlich das Paradies. Geführt wird er von sich abwechselnden, ebenfalls realen Personen, zunächst Vergil (der als Heide nicht im Paradies, aber immerhin wegen seiner vagen Ankündigung Christi im Fegefeuer weilen darf), später Satius, dann seiner eigenen Frau. Neben der monumentalen Sprachgewalt, die vom Obszönen über das Elegische bis zum Hymnus reicht, dem Reisemotiv, das man wieder einmal der Odysee entlehnt sehen vermag, die phantastischen und schaurigen Bilder, die Jahrhunderte später erst bei den Höllenbildern der Brueghels ihre malerische Entsprechung finden, sind es die vielen Figuren, die Dante auf seinem Weg antrifft. Feinde wie Freunde fanden in der Commedia Eingang, ob nun ihre Höllenqualen oder ihr himmlisches Vergnügen minutiös erörtert wurden. Aber auch Dantes Göttliche Komödie fordert vom Leser viel Zeit ein, die sich allerdings uneingeschränkt lohnt. Wer dennoch vor dem Wälzer zurückschreckt, der lese wenigstens die dramatische Episode des Ugolino und bekomme so einen Eindruck von Dantes Meisterlichkeit.
Autor: Dante Alighieri
Alices Abenteuer im Wunderland
Carrolls Klassiker gilt wegen seiner Figuren und Bilder vielen als Kinderbuch, zumal es einst für ein Kind geschrieben wurde. Die lebhaften und farbenfrohen Beschreibungen, die Begegnungen mit sprechenden Tieren, Fabelwesen und allerlei anderen eigentümlichen Gestalten, aber auch der stets präsente Kontrast zur viktorianischen Erziehung der protagonistisch auftretenden Alice taten hierzu ihr Übriges. Verschiedene Gruppen versuchten, sich das Buch und seinen Nachfolger „Alice hinter den Spiegeln“ anzueignen; der Drogen befürwortenden Lesart folgte bald die Auffassung einer pädophilen Fantasie. Die mannigfaltigen Interpretationen haben eine berechtigte Teilhabe an der Rezeption der Romane, obgleich mir die Auslegung als Sammlung philosophischer Denkfiguren am besten gefällt. Carroll, der für seine mathematischen und logischen Ratespiele bekannt war, hat hier einige denkwürdige Parabeln, etwa zur Natur höherdimensionaler Räume (das Verschwinden der Cheshire-Katze) oder zu Darwins Evolutionstheorie (das Wettrennen mit der roten Königin), eingearbeitet. Aber auch hier findet sich das Motiv des einsamen Reisenden wieder, der seltsame Orte besucht und dem wundersame Ereignisse widerfahren. In Gestalt eines Mädchens, das der viktorianischen Langeweile entflieht, ist es auch eine emanzipatorische Suche nach Autonomie von gesellschaftlichen Vorgaben und Zwängen. Unterm Strich jedoch ist der Doppelroman ein Werk herausragender Fantasie und Hingabe, das auch noch nach dem zwanzigsten Mal zu bezaubern versteht.
Autor: Lewis Carroll. Übersetzer und Herausgeber: Günther Flemming. Illustrator: John Tenniel.