Geboren 1980 in München, interessierte ich mich bereits früh für Sprache: Kein Wunder, denn im Kindergarten konnten alle Deutsch, nur ich nicht. Das könnte jetzt in einem typischen Migrationstrauma geendet haben, aber die (meine) Geschichte geht anders. Ich eroberte mir langsam erst Buchstaben, dann Worte und schließlich Sätze, mit denen sich nicht nur kommunizieren, sondern neue Welten erträumen ließ. Heute arbeite ich als Texterin und Redakteurin und schenke meinen Worten Beachtung, denn sie sind es, die die Welt im Innersten zusammenhalten. Mehr zu mir auch auf meiner Webseite, dort findet sich auch meine prämierte Kurzgeschichte „Süße Himbeeren„.

Tatijana Milovic

Stadt der Diebe

Stadt der DiebeEine Freundschaft fürs Leben – zwei russische Jungs werden während der Invasion deutscher Truppen 1941 in Russland zu Dieben. Auf der Suche nach dem Diebesgut, kostbaren Eiern finden sie Hunger, Menschenfresser, Sadisten, Utopisten, Zweifel und immer wieder Menschlichkeit. Es geschieht nicht oft, dass Romanfiguren zum Leben erwachen, dass ich beim Lesen ihren Puls spüre, und sich meine Augen zwischen den Zeilen ausruhen mussten, zu ängstlich und neugierig macht mich ihre verzweifelte Lebensgier und ihre jugendliche Unbekümmertheit. Und wenn ich morgens aufgewacht bin, saß ich mit ihnen am Frühstückstisch und tüftelte mit meinem neuen Freund, David Benioffs Kolja, eine neue Strategie aus, wie man Eier am cleversten stehlen kann, wie er seinen kleinen Judenfreund am besten in die Kunst der Verführung einweisen kann und wann eine gute Verdauung wirklich gelingen kann. Wir diskutierten auch über neue Worterfindungen, und waren uns einig, dass man die Sohlen grober Stiefel vielleicht doch nicht als Lebkuchen bezeichnen sollte. Ich gratulierte beiden, dass sie nicht zu schmackhaften Menschenwürsten verarbeitet wurden. Denn der Gaumen kennt auch seine Geschmacksgrenzen. Am Ende hätte ich mich bei Kolja bedankt, dass er sich um seinen kleinen Juden so herzhaft gekümmert hatte und ich mir einen Freund wie ihn auf immer gewünscht hätte… Der Roman und die Figuren berührten mich tief und machten mein Herz zugleich seltsam schwer. Lesend verliebte ich mich in diese tapferen und tollkühnen Figuren, die frech und mit einer bewundernswerten Chuzpe Lust haben – aufs Leben, mit oder ohne Glücksgarantie. Stiehlt definit nicht nur Eier, sondern auch die Herzen der Leser.

Autor: David Benioff. Übersetzerin: Ursula-Maria Mössner.

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Shantaram

ShantaramEs hat gedauert, bis ich die ersten Seiten anfangen wollte; zu sehr hatten mich die über 700 Seiten zum Schmökern abgeschreckt. Und nach den ersten Seiten – kein Halten mehr. Diesmal hat mich nicht so sehr die Sprache und die kunstvolle Dramaturgie überzeugt, sondern der Protagonist und Autor in Personalunion, der diesem Roman seine wilde und verratene Seele einhaucht. Ab einer bestimmten Stelle ist mir der Kiefer vor ungläubigem Staunen regelmäßig nach unten geklappt und immer wieder meine Frage: Wie viel Schicksal kann ein Mensch noch ertragen? Er, der zuerst aus einem australischen Gefängnis geflüchtet war und sich dann im exotischen Indien verirrte, bis er sich selbst neu erfand – dabei scheiterte er grandios, leidenschaftlich, skrupellos und erkannte, dass er wieder zum Gefangenen wurde – diesmal seiner selbst. Er wird immer wieder scheitern und Menschen vertrauen, die aus ihm eine Marionette machen, die ihm das vorenthalten, wonach er sich immer gesehnt hatte: einer Heimat unter Freunden. Wie einem Esel, dem eine Karotte vor die Nase gehalten wird, wird er aus falsch verstandener Loyalität betrügen, sich rächen, sich und andere zerstören, kämpfen und sogar töten. Natürlich hat der Autor an einigen Stelle der Kunst halber die dramaturgische Lüge der realen Begebenheit den Vorzug gegeben. So what? Selbst wenn 20 Prozent wahr sind, beim Alkohol reicht die Dosis auch schon aus, um sich in leichte Ekstase zu versetzen. Diese Geschichte hat mich verzaubert, mich mitgenommen nach Mumbai, mich die Inder schätzen gelernt und mich erkennen lassen, dass die Konsequenzen von Eskapismus ganz schön aufregend schmalzig sein können. Bollywood lässt grüßen.

Autor: Gregory David Roberts. Übersetzerin: Sibylle Schmidt.

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Die Entbehrlichen

Die EntbehrlichenAb wann ist der Mensch entbehrlich? Holmqvist gibt eine literarische Antwort darauf: Wer keinen aktiven Beitrag für die Gesellschaft in Form von Kindern leistet, soll zumindest als standby-Organspender dienen – und das in einer optimalen, hermetisch isolierten und keineswegs unsympathischen Atmosphäre. So verliert das Horrorszenario bald seinen Schrecken, eben weil die Autorin in der Figur des weiblichen Insiders sachlich, klar und liebevoll ihr zweites Leben als Organspenderin beschreibt. Sie soll mit der Zeit im wahrsten Sinne des Wortes ausgeweidet werden, zuvor darf sie an einigen Experimenten teilnehmen, die sie zunächst einmal physisch unversehrt lassen. Und das Kuriose dabei ist, dass sie gerade in einer gesellschaftlich akzeptieren Entmenschlichung an Empathie, emotionaler Differenziertheit und Lebensqualität dazu gewinnt. In einer Phase, wo die Menschen um sie herum zu Organlagern degradiert werden, entwickelt sie feste Bindungen, Liebe und immer wieder Hoffnung. Ihr wird alles wieder genommen, da in der klinisch-sterilen Atmosphäre nur die Entsorgung wartet – ausnahmslos für alle. Dennoch ist sie für die Forschung ein Glücksfall, weil ihr selbst ein Glück widerfahren ist, das ich an dieser Stelle nicht verraten werde. Am Ende ist man tief erschüttert, weil alles so nah am Leben ist, und dennoch pervertiert wird: vor allem unser Verständnis von Recht aufs Leben und auf unser privates Glück. Hat mich sehr berührt, oft überrascht und am Ende sehr nachdenklich gestimmt.

Autorin: Ninni Holmqvist. Übersetzerin: Angelika Grundlach.

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Mister Aufziehvogel

Mister AufziehvogelMurakami macht die Welt um einen herum für kurze Zeit magisch. Liest man ihn, so hat man schon bald das Gefühl, dass alles um einen herum potenziell zum Leben erwachen kann, dass alles darauf wartet, von uns neu entdeckt zu werden – vor allem unser Leben. Murakami lässt uns wieder an Wunder glauben. Am Anfang steht meist ein junger Protagonist, für den die Welt erst leise und dann immer lauter zusammenkracht. Aus Katastrophen werden Rätsel des Lebens und so verändert man mit der meist männlichen Hauptfigur langsam die Perspektive auf den Roman und für kurze Momente auch auf das eigene Leben. Nichts ist, wie es scheint. Und über allem herrscht eine sonderbare Stille, man hat das Gefühl, das sich nichts verändert, und doch nichts mehr beim Alten ist; dass man allein und auf seltsame Weise mit der Welt doch verbunden ist; dass man vom Beobachter zum Akteur und vice versa wird. Dabei verschiebt sich allmählich die Realität und man findet sich in dunklen Höhlen wieder, kommuniziert mit seltsamen Wesen und hört auf Vögel, die uns das Lied von Veränderungen zirpen, verliert Menschen und sogar sich selbst und kommt wieder gestärkt hervor, aber auch melancholischer. Und immer wieder die Frage: Wie wirklich ist unsere Wirklichkeit – das ist magischer Realismus, der einem im besten Sinne das Gefühl vermittelt, in mehr als drei Dimensionen zu leben. Murakami ist (m)ein Anti-Depressivum der besonderen Art.

Autor: Haruki Murakami. Übersetzer: Giovanni Bandini.

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Freiheit

FreiheitFranzens Korrekturen hat mich in den Lesewahnsinn getrieben, seinen Schreibstil empfand ich als affektiert und manieriert. Eigentlich wollte ich mir keinen weiteren Lesegraus mit Franzens Nachfolgetitel antun, wurde dennoch neugierig und unmerklich fand ich einen Franzen vor, der mir einen vollkommen neuen amerikanischen Kosmos eröffnen konnte – ohne Schwurbel, dafür mit unaufdringlicher Kenntnis und sehr präzise ausformulierten und durchdachten Hauptfiguren. Aus einer eigentlich recht harmlosen Geschichte, die Skizze einer amerikanischen linksorientieren Mittelschichtsfamilie, wurden Zeitgeschichte, Gesellschaftskritik, ideologisch geführte Diskurse um Freiheit und die Grenzen des eigenen persönlichen Wachstums auf so intelligente Weise inszeniert, dass ich lesend fast ehrfürchtig wurde. Die Figuren scheitern an ihren Ideen von einer moralisch integren Lebensweise, sie scheitern an ihren Weltrettungskonzepten ebenso wie an den Möglichkeiten, ihre Familie intakt zu halten, letztlich scheitern sie am Scheitern bis sie das leise Glück kultivieren – ist das Freiheit? Die Widersprüche erinnern uns an die Bürde und das Privileg, sich frei zu entscheiden – sowohl für das eigene Glück wie auch für das Unglück. Die Figuren übernehmen dabei die Position unterschiedlicher Lebensformen, die uns vermeintlich helfen, diesem Dilemma zu entkommen. Typen, die man nicht so schnell vergisst: so treffen sich ein Weltverbesserer, eine Zynikerin und ein Postexistenzialist, sie spielen recht schnell den Liebes- und später Leidensreigen, werfen Kinder und später ihre Ideale über Bord. Sie hassen, lieben, beneiden, verachten, schätzen und belügen sich – nichts, was wir nicht auch kennen, auch innerfamiliär. Eine Lektüre, die dabei mehr den Verstand stimuliert – aber diesmal macht mir der Franzen-Sprech nichts aus. Ich musste meine Meinung über Franzen korrigieren. Chapeau!

Autor: Jonathan Franzen. Übersetzerinnen: Bettina Abarbanell, Eike Schönfeld.

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