Björn Grau sollte mal eine Romanfigur werden, weil auf die Idee mit einer Figur namens Roman Held schon andere gekommen waren und Björn Grau so was ist wie der Bruder im Geiste von Anna Gram. Da das Romanschreiben nicht so gut klappte wie das Romanlesen wurde Björn Grau das Online-Pseudonym von Jörg Braun. Der hat mal was mit Literaturwissenschaften studiert. Heute ist er Vater, verdient sein Geld vorwiegend mit Netzpolitik und will endlich mal wieder eine Twitkrit schreiben.
Erec
Mut und Ehre, Liebe und Abenteuer. Inklusive Prinzessin und Endgegner. Viel zu oft als Einsteigerlektüre für den Mittelhochdeutschunterricht im Germanistik-Grundstudium unter Wert verkloppt. Zu Unrecht als Schema-F-Artusroman verschlagwortet durch Menschen, die eine unterkomplexe Idee von Strukturalismus haben. In Wahrheit ein rhetorisches Glanzstück, dass für bibelfeste Leser_innen einen herrlichen Subtext irgendwo zwischen bissiger Ironie und Blasphemie bietet und gekonnt Geschlechterrollen hinterfragt.
Autor: Hartmann von Aue
Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Am Anfang eine der schönsten literarischen Beschreibungen von Wasser überhaupt. Dann ein Jahr und drei Generationen New York und die mecklenburgische Ostsee. die Suche nach einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Eine große, liebevolle, geschichtsmächtige Familien- und Deutschlandsaga. Detailversessen, witzig und bis in den Tod prall gefüllt mit Leben. Wenn ich mich je in eine literarische Figur ernsthaft verliebt habe, dann in Gesine Cresspahl.
Autor: Uwe Johnson
Spieltrieb
Die kleine Ada, der Spieler und Herr Traurig treffen sich bei Ernst Bloch. Ein hoffnungsloser Fall. Manche meinen, Spieltrieb handle von einer morallosen deutschen Jugend am Anfang des 21. Jahrhundert. Es ist vielmehr ein großartiges Mash-up aus Musil, Schiller, Nabokov, Evanescence, Hanni und Nanni. Eine Dekonstruktion der klassischen Gerichtsrede mit tollen Wetterbeschreibungen und ein wenig Satanismus, bei der kaum ein Satz ohne Zitat oder Anspielung auskommt.
Autor: Juli Zeh
Vom Wasser
Dieser Roman geht so unglaublich langsam los, so unglaublich detailliert nimmt er seinen Titel ernst, so unglaublich überstrapaziert scheint lange die Wasser-Allegorie für die Geschichte vom Aufstieg und Fall einer Industriellenfamilie im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Aber irgendwann kommst Du nicht mehr raus aus dem Sog, den diese Geschichte und die intensive Erzählweise entwickeln. Irgendwann wird die Langsamkeit zum Strudel. Also zumindest, wenn Du einen Hang zu buddenbrookesken Plots hast und irgendwann feststellst, dass es da einen Zusammenhang zwischen guter Literatur und guter Wasserbeschreibung geben muss. Und: Was gibt es passenderes als Liebe und Begehren im Ausnehmen von frisch gefangenem Fisch auszudrücken? Eben.
Autor: John von Düffel
Der kommende Aufstand
Ich habe diesen Aufsatz direkt nach „Empört Euch!“ von Stéphane Hessel gelesen, das bei allem Respekt vor dem Leben und dem Wissen des Verfassers mir doch deutlich zu brav war. Wie wohltuend dagegen der kommende Aufstand, der in seiner harschen Kritik des urbanen Kapitalismus kaum Gnade kennt. Ja, hier wird wie bei fast allen linksradikalen Kopfgeburten zu viel Politik hineininterpretiert in Gewalt, die aus Frust entsteht. Ich bin mir sicher, dass ich die Ablehnung der Stadt als verknöcherte Ansammlung von Unterdrückung und Ausbeutung bei aller Liebe zur Systemkritik so nicht teile. Aber endlich mal eine radikale Utopie einer anderen Welt. Eine Utopie, die noch in der neuen Landkommune quasi digital auf Netzwerkstrukuren beruht. Selten von politischen Texten so erfrischend den Kopf gelüftet bekommen.
Autor: Unsichtbares Komitee