Friederike von Criegern ist Literaturwissenschaftlerin. Sie kommt von der Nordsee, hat Germanistik und Hispanistik studiert, einige Zeit in Südamerika gelebt und wohnt jetzt mit dem Lieblingsitaliener und ihrem Sohn in Göttingen. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Iberoromanischen Literaturwissenschaft, interessiert sich vor allem für Lyrik und Narratologie und arbeitet manchmal auch als Übersetzerin und Dolmetscherin. Sie liest mit Bleistift und mag keine Hörbücher. Im Chor singt sie Alt 1 und ihr privates Blog führt sie als Percanta.
Gedichte. 1954 – 94.
Robert Gernhardt, mein Leib- und Magendichter. Wenn ich etwas zitiere, ist es mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit Gernhardt oder Morgenstern. Dieses rote Bändchen ist eine Anthologie, und wie die Jahreszahlen schon zeigen, haben die späten, todesnahen Bände des wunderbaren Robert Gernhardt (die K-Gedichte oder Später Spagat) hier noch nicht Eingang gefunden. (Es gibt aber einen Nachfolgeband bis 2006, den ich allerdings nicht kenne. Es wäre wohl Zeit für eine Gesamtausgabe, sein Werk ist ja nun – leider – abgeschlossen.)
Durch diese Gedichte habe ich gelernt, dass gute Literatur nicht im schwarzen Rollkragenpullover daherkommen muss, und wie phantastisch (und wahrscheinlich viel schwieriger als trüber vermeintlicher Tiefsinn) Humor in der Literatur ist. Gernhardt kommt leichtfüßig daher, und dann erwischt er einen oft doch sehr gründlich. Oder er dreht einem am Ende noch eine elegante Nase. Meine Leseempfehlung zielt auf den gesamten Gernhardt, aber beginnen wir von vorne, mit einem kleinen Text aus Besternte Ernte (1976):
„Lehrmeister Natur.
Vom Efeu können wir viel lernen:
Er ist sehr grün und läuft spitz aus.
Er rankt rasch, und er ist vom Haus,
an dem er wächst, schwer zu entfernen.
Was uns der Efeu lehrt? Ich will es so umschreiben:
Das Grünsein lehrt er uns. Das rasche Ranken.
Den spitzen Auslauf und, um den Gedanken
noch abzurunden: auch das Haftenbleiben.“ (Gedichte 1954-94, S. 55f.)
Autor: Robert Gernhardt
The Complete Calvin and Hobbes
„Calvin and Hobbes“, noch so ein Zitatenschatz, aber mit Bildern. Und hier ist die Gesamtausgabe. Hardcover. Mit Goldschnitt. Tatsächlich hat auch diese Ausgabe keinen Goldschnitt, fühlt sich aber so an. Alle Strips, alle Sonntagsseiten, alles alles. Complete, plus Bonusmaterial. Und das wunderschön präsentiert. Annähernd 1500 Seiten in drei Bänden im überdimensionalen Schuber. Hier nehmen Calvin und Hobbes im Bücherregal den Platz ein, der ihnen zusteht – außer dem im Herzen, den sie sowieso schon belegt haben. (Übrigens wurde ich mich Calvin und Hobbes erwachsen. So jung wie Calvin war ich zwar nie, und überhaupt dürften Calvin und Hobbes wenig sechsjährige Leser haben. Als der erste Calvin-Strip erschien, war ich aber neun Jahre alt und damit immerhin in Reichweite. Heute jedoch habe ich einen vierjährigen Sohn und identifiziere mich darum ganz klar mit Calvins Mutter, nicht etwa mit Calvin oder Susie Derkins. Auch eine Art, sich beim Altern zuzuschauen.)
Autor: Bill Watterson
Cartas de prisionero
Dieses schmale Bändchen hat mich zu meinem Dissertations-Autor gebracht, mit dem ich dann viele Jahre verbracht habe. Es ist ein Lyrikband mit Collagen, es sind Liebesgedichte und es ist Politik, es ist die in Versen gefasste Geschichte eines Dichters, der in der chilenischen Diktatur in Lagerhaft kam und überlebte. Die Texte von Floridor Pérez sind kurz und schlicht, und sie treffen präzise den Punkt. Das Buch ist auf Spanisch, auf Deutsch sind ein paar Gedichte in meiner kleinen und leider vergriffenen Anthologie „Für einen Fisch ein Flügel zu viel“ nachzulesen.
Autor: Floridor Pérez
Kamchatka
Auch Kamchatka war der Beginn einer Forschungsphase und begleitet mich nach einer unwissenschaftlichen, aber begeisterten Erstlektüre bereits seit einiger Zeit. Der Roman erzählt aus Sicht eines zehnjährigen Jungen die Geschichte einer Familie, die zu Beginn der argentinischen Diktatur in den Untergrund geht und sich mit falschen Identitäten in einem Landhaus bei Buenos Aires versteckt. Der Junge erklärt sich und uns die Welt – und die Diktatur – aus seiner Perspektive und vor seinem Horizont, am äußeren Gerüst von Schulfächern orientiert, vor allem aber mit Hilfe von Fernsehserien und Comic-Helden. Kamchatka ist eine anrührende, komische und tieftraurige Erzählung. Sie ist voller Lieblingssätze und Figuren, die mir ans Herz gewachsen sind. Ebenso wie der Roman ist der gleichnamige Film zu empfehlen, der noch vor dem Buch entstand und für den Marcelo Figueras selbst das Drehbuch geschrieben hat. Ich kann diesen Film allerdings auch bei Vorführungen im Seminar nicht ohne Tränchen sehen.
(Im Deutschen heißt der Roman Kamtschakta, Übersetzung Sabine Giersberg.)
Autor: Marcelo Figueras
Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität
Ich habe ewig hin und her überlegt, welchen Titel ich noch nehme. Erledigungen vor der Feier? Wie der Soldat das Grammophon repariert? Middlesex? La letra E? Die Entdeckung des Himmels? Die Brautprinzessin. S. Morgensterns klassische Erzählung von wahrer Liebe und edlen Abenteuern. Die Ausgabe der „spannenden Teile“? Entschieden habe ich mich für einen Roman mit ähnlich langem Titel wie der letztgenannte, vor allem aber: für einen Schmöker. Dave Eggers‘ herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität ist der angeberische, pralle, ironische, an allen Ecken und Enden übertriebene und überlappende Gegenentwurf zur lyrischen Verdichtung und zur stillen Lakonie eines überaus bescheidenen Poeten wie Pérez. Und es ist großartig, aber das sagt der Titel ja schon. Ich habe diese Geschichte eines sehr jungen Mannes, dessen Eltern kurz nacheinander sterben und der daraufhin beschließt, seinen kleinen Bruder alleine großzuziehen, verschlungen. Oder sie hat mich verschlungen, und nach einer waghalsigen Sprachorgie voller Abgründe und absurder Ideen irgendwann wieder ausgespuckt, leicht schwindelig, benommen und glücklich.
Autor: Dave Eggers, Übersetzer: Leonie von Reppert-Bismarck und Thomas Rütten